Ein Vorwort
Das Netflix aus der Award-Season nicht mehr wegzudenken ist, hat der Erfolg von Roma im letzten Jahr bewiesen. Während Netflix lange den Ruf hatte bei den Filmen weniger auf Qualität als eher auf Quantität zu achten bei den Eigenproduktionen, ist nun nur noch teilweise richtig. Denn auch dieses Jahr ist neben Marriage Story auch ein The Irishman bei den Golden Globes stark vertreten. Über den grundsätzlichen Wandel zum Streaming und warum große Filmemacher, wie Martin Scorsese oder letztes Jahr Alfonso Cuaron, ihre Filme nicht mehr über die klassischen Studios finanziert kriegen und welche Vor- und Nachteile dies mit sich bringt, ist Thema für eine ganz eigene Diskussion. Ob The Irishman über eine Spiellänge von 3,5 Stunden funktioniert, erfahrt ihr in meiner Kritik.
Die Handlung
Der Ire Frank Sheeran (Robert de Niro) gelangt in den 1950er Jahren auf den Radar der Bufalino-Familie, einer Mafia Familie in Pennsylvania. Dort lernt er den Oberhaupt Russell (Joe Pesci) kennen. Über ihn wird er zum Leibwächter des Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino).
Meine Meinung
Als ich mir vorgenommen habe The Irishman zu sehen, war meine größte Hemmschwelle tatsächlich die Lauflänge. Bereits The Wolf of Wall Street war mit 180 Minuten Lauflänge ein ganz schöner Brocken und schon den konnte ich bisher nie in einem Stück gucken. Nun hat sich Scorsese noch einmal selbst getoppt. Mit 209 Minuten Lauflänge beinhaltet er die Länge von zwei durchschnittlichen Filmen. Kann ein Film es schaffen die Aufmerksamkeit eines Zuschauers so lange zu halten?
Nun hier kommt es gewiss auch ein wenig darauf an, in welcher Umgebung man den Film sieht. Vor Veröffentlichung auf Netflix war The Irishman kurzzeitig in ausgewählten Kinos zu sehen. Unerreichbar also für alle, die nicht in einer großen Metropolregion mit vielen kleinen unabhängigen Kinos wohnen. Hier sind jedoch die Ablenkungsfaktoren durch die Umwelteinflüsse relativ gering. Allerdings kann man hier auch nicht mal eben den Film anhalten, um die Toilette aufzusuchen. Das reguläre Publikum wird den Film also auf Netflix schauen. Allein die Tatsache, dass Scorsese einen Appell an die Zuschauer starten musste, seinen Film doch bitte nicht auf dem Handy zu schauen, sagt viel über das Sehverhalten von Netflix-Zuschauern. Aber selbst ich, die den Film auf einem relativ großen Fernseher zu Hause sehen konnte, konnte mich nicht vollständig vor Unterbrechungen wappnen.
Dennoch sollte man möglichst versuchen den Film als Ganzes zu sehen und nicht in kleine Häppchen zu unterteilen. Dies ist mitunter auch gar nicht möglich, weil es tatsächlich keine Stelle im Film gibt, der man einen Cut anmerkt, also eine Stelle, wo man meinte „Okay, jetzt hab ich diesen Abschnitt gesehen, bevor es weitergeht, kann ich noch schnell etwas anderes erledigen“. Stattdessen ist die ganze Handlung geprägt von Zeitsprüngen und die Schauspieler werden mal jünger, mal älter, mal spiegeln sie ihr tatsächliches Alter wieder. Aber alles in einer laufenden Erzählung. Es gab auch die Überlegung, warum Scorsese, wenn er die Geschichte komplett auserzählen wollte, das Ganze nicht als Serie angelegt hat. Auch dies beantwortet der Film. Denn in einer Serie braucht man Szenen, die jede Folge eröffnen und Szenen die eine Folge in sich schließen. Sei es durch eine schöne Abschiedsmodellage an Bildern oder meinetwegen auch durch einen Cliffhanger. Doch als dies hätte die Erzählstruktur des Films massiv angegriffen, weswegen es die Folgerichtige Entscheidung war, den Film als Film zu belassen. Dennoch schafft der Film es nicht, einen für die gesamte Dauer zu fesseln. Er schafft es stellenweise, aber zwischendurch schweiften dann doch immer wieder die Gedanken ab. Dann kam wieder ein Stichwort und man wusste, wenn man jetzt nicht aufpasst, dann verpasst man etwas Wichtiges. Dann passte man wieder für 20 Minuten auf, bis man für 10 Minuten wieder komplett raus war und immer so weiter. In der Gänze schafft es The Irishman also durchaus den Zuschauer abzuholen.
Aber wieso wurde der Film dann nicht kürzer erzählt? Bei 209 Minuten gibt es doch bestimmt die eine oder andere Szene, die man hätte weglassen können? Grundsätzlich bin ich ein großer Verfechter von kürzeren Filmen. Alles, was über zwei Stunden dauert, braucht für mich eine gute Begründung, warum der Film so lang ist. Auch ist The Irishman einfach zu lang, angenehmer Filmgenuss geht anders. Doch hat Scorsese es geschafft einen Film zu drehen, bei dem wirklich jede Szene wichtig ist. Es gibt keine Szene, bei der man denkt, dass sie nur Füllmaterial ist, um den Film zu strecken. Denn alle Szenen führen zu unserem Protagonisten im Altersheim, der uns seine Geschichte erzählt. Ganz im Gegenteil muss man sogar sagen, dass der Film vielleicht sogar die eine oder andere Szene zu wenig hat. Denn gegen Ende gibt es einen kurzen Dialog zwischen DeNiro und eine seiner Töchter, die ihm erklärt, warum es nie wirklich ein Familiengefühl gab. Und genau dieser Aspekt kommt eigentlich viel zu kurz. In einer kurzen Szene sieht man, warum die Kinder Angst hatten ihrem Daddy etwas zu erzählen. Aber dabei wurde es dann belassen.
Kommen wir zu einem weiteren heiß diskutierten Punkt. Wie Scorsese im The Irishman Gespräch – ebenfalls einsehbar auf Netflix – sagte, war sein Hauptproblem vor der Umsetzung des Films, dass er zwar eine Ahnung hatte, wer der passende Cast sein könnte, jedoch die Handlung so viel Zeit umfasste, dass er eigentlich für viele Szenen weitaus jüngere Darsteller hätte casten müssen. Aber weil er wusste, dass jeder seiner Schauspieler absolut einzigartige Bewegungen und Mimik leisten würde, wollte er den gesamten Film mit den gleichen Darstellern drehen. Also musste eine Verjüngungstechnik her. Er wollte aber auch nicht die gleiche, die in Star Wars benutzt wurde. Schließlich wurde er fündig und konnte nun seine Darsteller anständig digital verjüngen lassen. Das Ergebnis kann sich auch durchaus sehen lassen. Das Problem an der Sache ist, dass seine Darsteller eben nicht jünger werden, sondern nur so aussehen. Auch wenn in vielen Szenen darauf geachtet wurde, dass sie sich eben nicht wie alte Männer bewegen, sieht man es den Herren eben doch an. Wenn de Niro zutritt, dann tritt er wie ein alter Mann. Das lässt sich nicht digital verbergen.
Dennoch leisten die Darsteller einen guten Job. Optisch, schauspielerisch und erzählerisch kann man The Irishman absolut nichts vorwerfen. Das Problem, das ich mit dem Film habe, ist rein persönlich. Ich mag keine Mafiafilme. Ich kann nichts damit anfangen. Mich überfordern die verstrickten Strukturen, die tausend Personen, die irgendwo irgendwann noch einmal wichtig werden können. Aber wer Mafiafilme mag oder gar liebt, der wird hier einen neuen Kandidaten fürs Herz haben.
Das Fazit
The Irishman ist mit 209 Minuten sehr lang. Dennoch besticht er über die gesamte Länge mit spannenden Elementen, guten Darstellern und einer einmaligen Optik. Für das optimale Sehvergnügen sollte man jedoch ein Liebhaber von Mafiageschichten sein. Denn wer vorher damit nichts anfangen konnte, kann es auch nach The Irishman nicht.
The Irishman lief ab dem 14.11.2019 in ausgewählten Kinos und ist seit dem 27.11.2019 auf Netflix abrufbar.
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